Graphen-Forschung: Zahlreiche
Produkte, keine akuten Gefahren

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«Graphene Flagship» nach zehn
Jahren erfolgreich abgeschlossen

Graphen-Forschung: Zahlreiche Produkte, keine akuten Gefahren
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Die «Graphene-Flagship» –Initiative hat die Auswirkungen von Graphen (blau) und verwandten Materialien auf Gesundheit und Umwelt untersucht. Kolorierte Rasterelektronenmikroskopie: Empa
Archiv | 02.03.2024 | Die grösste je auf die Beine gestellte EU-Forschungsinitiative ist erfolgreich zu Ende gegangen: Ende letzten Jahres wurde das «Graphene Flagship» offiziell abgeschlossen. Daran beteiligt waren auch Empa-Forschende, etwa der Molekularbiologe Peter Wick, der im «Workpackage Health and Environment» von Anfang an dabei war – und die Erkenntnisse in diesem Bereich soeben mit internationalen Kollegen in einem umfassenden «Review»-Artikel im Fachjournal «ACS Nano» zusammengefasst hat.

Nicht kleckern, sondern klotzen. Das könnte man dem 2013 gestarteten «Graphene Flagship» durchaus als Motto voranstellen: Mit einem Budget von insgesamt einer Milliarde Euro war es Europas bis dato grösste Forschungsinitiative, nebst dem zeitgleich gestarteten «Human Brain Flagship». Ähnliches gilt auch für den «Review»-Artikel zu den Auswirkungen von Graphen und verwandten Materialien auf Gesundheit und Umwelt, den die Empa-Forschenden Peter Wick und Tina Bürki zusammen mit 30 internationalen KollegInnen soeben im Fachjournal «ACS Nano» veröffentlich haben; auf knapp 60 Seiten fassen sie darin die erarbeiteten Erkenntnisse zu den gesundheitlichen und ökologischen Risiken von Graphen-Materialien zusammen, die Referenzliste umfasst knapp 500 Originalveröffentlichungen.


Geballtes Wissen also – das gleichzeitig vorsichtig Entwarnung gibt. «Wir haben die möglichen akuten Wirkungen von verschiedenen Graphenen und Graphen-ähnlichen Materialien an Lunge, im Magen-Darm-Trakt und in der Plazenta untersucht – und in allen Studien keine schwerwiegenden akuten zellschädigenden Effekte beobachtet», fasst Wick die Ergebnisse zusammen. In Zellen der Lunge könnten zwar durchaus Stressreaktionen auftreten, aber das Gewebe erhole sich relativ rasch wieder. Einige der neueren «2D-Materialien» wie Bornitride, Übergangsmetall-Dichalkogenide, Phosphorene und MXene seien allerdings noch wenig erforscht, schiebt Wick nach; hier seien weitere Untersuchungen nötig.


In ihren Analysen haben sich Wick und Co. nicht nur auf neu hergestellte Graphen-ähnliche Materialien beschränkt, sondern den gesamten Lebenszyklus verschiedener Anwendungen von Graphen-haltigen Materialien unter die Lupe genommen. Also Fragen untersucht wie: Was passiert beim Abrieb oder beim Verbrennen dieser Materialien? Werden dabei Graphen-Teilchen freigesetzt, und kann dieser Feinstaub Zellen, Gewebe oder die Umwelt schädigen?


Ein Beispiel: Die Zugabe von einigen wenigen Prozent Graphen zu Polymeren, etwa Epoxidharze oder Polyamide, verbessert Materialeigenschaften wie mechanische Stabilität oder Leitfähigkeit deutlich, die Abriebpartikel verursachen aber keinen Graphen-spezifischen nanotoxischen Effekt auf die getesteten Zellen und Gewebe. Diese Forschung kann Wicks Team auch nach Abschluss des «Flagship»-Projekts weiterführen, weiterhin auch dank Förderung durch die EU im Rahmen so genannter «Spearhead»-Projekte, deren stellvertretender Leiter Wick ist.


Neben Wicks Team haben Empa-Forschende um Bernd Nowack im Rahmen des «Graphene Flagship» über Stoffflussanalysen auch die mögliche künftige Umweltbelastung mit Graphen-haltigen Materialien berechnet und modelliert, welche Ökosysteme wie stark belastet sein dürften. Das Team von Roland Hischier, wie Nowack aus der Abteilung «Technologie und Gesellschaft», hat mit Hilfe der Ökobilanz-Methode die ökologische Nachhaltigkeit unterschiedlicher Produktionsmethoden und Anwendungsbeispiele für verschiedene Graphen-Materialien untersucht. Und das Team von Roman Fasel aus dem «nanotech@surfaces» Labor der Empa hat die Entwicklung elektronischer Bauelemente auf der Basis von schmalen Graphenstreifen vorangetrieben.

 

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Die "Graphene Flagship" Initiative in Zahlen. Illustration: Empa

Eine europäische Erfolgsgeschichte für Forschung und Innovation

 

Das 2013 gestartete «Graphene Flagship» stellte seinerzeit eine völlig neue Form der gemeinsamen, koordinierten Forschung in bisher nicht gekanntem Umfang dar. Das Grossprojekt hatte das Ziel, Forschende aus Forschungsinstitutionen und aus der Industrie zusammenzubringen, um innerhalb von zehn Jahren praktische Anwendungen mit Graphen aus den Labors zur Marktreife zu bringen und so Wirtschaftswachstum, neue Arbeitsplätze und neue Chancen in Schlüsseltechnologien für Europa zu schaffen. Das Konsortium bestand über seine gesamte Laufzeit aus mehr als 150 akademischen und industriellen Forschungsgruppen in 23 Ländern und hatte zahlreiche weitere assoziierte Mitglieder.


Letztes Jahr endete die zehnjährige Förderung mit der «Graphene Week» im September im schwedischen Göteborg. Der Abschlussbericht zeigt eindrücklich die Erfolge des ambitionierten Grossprojekts: Das «Flagship» hat knapp 5'000 wissenschaftliche Publikationen und mehr als 80 Patente «produziert». Es entstanden 17 Spin-offs im Graphenbereich, die insgesamt mehr als 130 Millionen Euro an «Venture Capital» eingeworben haben. Gemäss einer Studie des deutschen Wirtschaftsforschungsinstituts «WifOR» hat das «Graphene Flagship» zu einer Wertschöpfung von insgesamt rund 5.9 Milliarden Euro in den beteiligten Ländern geführt und mehr als 80'000 neue Jobs in Europa geschaffen. Damit sei die Wirkung des «Graphene Flagship» mehr als 10-mal grösser als kürzere EU-Projekte, so die Analyse.


An die Empa flossen im Verlauf des Projekts insgesamt rund drei Millionen Franken – die durchaus «katalytisch» wirkten, wie Peter Wick betont: «Diese Summe haben wir durch Folgeprojekte in der Grössenordnung von insgesamt rund 5.5 Millionen Franken rund verdreifacht, das waren weitere EU-Projekte, Projekte, die vom Schweizerischen Nationalfons (SNF) gefördert wurden, aber auch direkte Kooperationsprojekte mit unseren Industriepartnern – und das alles in den letzten fünf Jahren», so der Empa-Forscher.


Doch der Vorteil derartiger Projekte geht weit über die grosszügige Finanzierung hinaus, betont Wick: «Es ist wirklich einzigartig, in einem solch grossen Projekt und breitem Netzwerk über so lange Zeit mit dabei zu sein. Zum einen haben sich daraus zahlreiche neue Kooperationen und Ideen für Projekte ergeben. Zum anderen hat es aber auch eine völlig andere Qualität über eine so lange Zeit mit internationalen Partnern zusammenzuarbeiten, man vertraut sich fast blind; und ein derart eingespieltes Team ist deutlich effizienter und erbringt wissenschaftlich bessere Ergebnisse», ist Wick überzeugt. Dabei seien nicht zuletzt auch viele persönliche Freundschaften entstanden.

 

«A new dimension»: Graphen und weitere 2D-Materialien

 

Graphen ist ein enorm vielversprechendes Material. Es besteht aus einer einzigen Schicht von wabenförmig angeordneten Kohlenstoffatomen und besitzt aussergewöhnliche Eigenschaften: ausserordentliche mechanische Festigkeit, Flexibilität, Transparenz sowie hervorragende Wärme- und Stromleitfähigkeit. Schränkt man das ohnehin zweidimensionale Material räumlich noch mehr ein, etwa zu einem schmalen Band, entstehen sogar kontrollierbare Quanteneffekte. Dies könnte eine Vielzahl von Anwendungen ermöglichen, von Fahrzeugbau über Energiespeicherung bis hin zu Quanten-Computing.

 

Dabei war die Existenz dieses «Wundermaterials» lange nur theoretisch. Erst 2004 konnten die Physiker Konstantin Novoselov und Andre Geim an der «University of Manchester» Graphen gezielt herstellen und charakterisieren. Dafür trugen die Forscher so lange Graphitschichten mit einem Stück Klebeband ab, bis sie nur noch ein Atom dicke Flocken hatten. Für diese Arbeit erhielten sie 2010 den Nobelpreis für Physik.

 

Seither ist Graphen Gegenstand intensiver Forschung. Unterdessen haben Forschende weitere 2D-Materialien entdeckt, etwa die von Graphen abgeleiteten Graphensäure, Graphenoxid sowie Zyanographen, die Anwendungen in der Medizin haben könnten. Mit anorganischen 2D-Materialien wie Bornitrid oder MXene wollen Forschende leistungsfähigere Batterien bauen, elektronische Komponenten entwickeln oder andere Materialien verbessern.

 

 


Rubriken: Materialtechnik

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